Aus: Walter Frei; Vier Generationen der St. Gallener Familie Schlatter

Anna und ihr Mann Hektor stammten beide aus führenden St. Galler Kaufmannsfamilien. Hektor Schlatter 1766-1842 führte das Kolonialwarengeschäft hinter der St. Laurenzen – Kirche „Schlatter hinterm Turm“. Anna war eine arbeitsame Hausfrau und an der Seite ihres Mannes eine tüchtige städtische Geschäftsfrau. Ermuntert durch den nahen Kontakt mit Pfr. Lavater in Zürich und seiner Familie war ihr erwecklich-pietistischer Glaube ganz auf Jesus gerichtet, was sie nicht hinderte, weltoffen und ökumenisch zu denken. Im Gegenteil, ihre enge Bezie- hung zu Jesus ermöglichte der protestantischen Bürgersfrau, nicht nur dauernd Mönche aus dem benachbarten Kloster an ihren Tisch zu laden und mit ihnen geistlichen Austausch zu pflegen, sondern überhaupt, ständig Besuche zu bekommen und zu machen, ja grosse Be- suchsreisen zu unternehmen und einen riesigen Briefverkehr zu unterhalten. Ihre erstaunlich ökumenische und doch kritische, weltoffene aber tief verwurzelte Frömmigkeit machte vielen Menschen Mut. Hektor brachte als junger Witwer aus der ersten Ehe einen Bub mit, zusam- men führten sie eine glückliche Liebesehe. Sie bekamen 13 Kinder, von denen aber drei früh starben. So haben sie 11 Kinder grossgezogen: „Meine Kinder sind mir immer lieber, je mehr ich bekomme“ „Ich denke, es war in Bethlehem auch eng im Stall und in der Krippe“.

Anna Schlatters Gedanken kreisten oft um das Thema „Allversöhnung“: dass Gott durch Christus doch am Ende nicht nur die Gläubigen, sondern alle Menschen retten werde („All- versöhnung“). „Die Klarheit, in welcher mir die totale Wiederherstellung alles dessen, was der Teufel verdarb, durch den Sohn Gottes vor meinem inneren Auge schwebte“, liess sie dazu viele Bibelstellen finden. Sie „fühlte tief“, dass Jesus als Hohepriester, „welcher die Sünden der Welt hinnahm und immerdar für uns bittet, unendlich viel mehr Liebe zu den Menschen haben müsse als wir.“ Am Kreuz habe Jesus „für die Welt“ und „für seine Mör- der“ gebetet. Daraus schöpfte sie ihre „Lieblingshoffnung“, „dass das ganze Menschenge- schlecht errettet werde.“ Und so heisst es in einem ihrer Gedichte: „Ach, dein Erbarmen ken- net keine Schranken – Es übersteiget menschliche Gedanken“.

Daraus folgte auch ihr Pazifismus. Bereits 1795 schrieb sie ihrem Mann: „In diesen kriegeri- schen Zeiten freue ich mich besonders, dass du so ein Mann des Friedens bist und mehr Ge- schmack an der lieben Natur als an Waffen (und) Militär hast“.
1814 ging Napoleons Herrschaft zu Ende. Dazu Anna: „Mit gefällt’s gar nicht, dass in Deutschland auch die Besten so begeistert für den Krieg sind. Auch der gerechteste Krieg ist … eine Plage der Menschheit, ein Kind der Hölle, ist doch nur ein Streit um die irdischen Rechte und Freiheiten eines irdischen Vaterlandes. Unser Vaterland aber ist droben, und das Reich Gottes ist Friede… Es ist mir nicht einleuchtend, dass sie es da in Deutschland einen Kampf Gottes, einen Kampf um die Sache Jesu nennen.“

Bestärkt wurde Anna in ihrer pazifistischen und antinationalistischen Haltung durch Stephan Grellet, einen Quäker, der 1814 und 1820 sie besuchte. Sie war tief beeindruckt von seiner christlichen Mystik, seinem sozialen Engagement für die Reform der Zucht- und Krankenhäu- ser (er forderte in Zürich die Gründung einer psychiatrischen Klinik) und seiner konsequent pazifistischen Haltung, aber hoffte, einst werde „auch G. nicht mehr Quäker sein, und seine(kirchliche Institution) wird wie die unsere aufgelöst werden.“ Später schrieb sie: „Wie wer- den meine frommen Eltern staunen, wenn ihnen dort in der Ewigkeit Enkel aus allerlei Land und Volk entgegenkommen – sie, die beinahe glaubten, ausser der Schweiz sei kein Heil.“ Für sie gehörten Pazifismus und weltbürgerliches Denken zusammen. Fünf Töchter und ein Sohn wanderten nach Deutschland aus, ein weiterer Sohn nach den Vereinigten Staaten. Anna Schlatter prägte viele ihrer unzähligen Nachkommen stark, aber auch viele andere Menschen im 19. Jahrhundert.

Spannend zu lesende Biografie von Marianne Jehle-Wildberger, Anna Schlatter-Bernet 1773-1826, Eine weltoffene St. Galler Christin, VGS-TVZ 2003.

Gerade auch ihr zehntes und zweitletztes Kind STEPHAN SCHLATTER 1805-80 wurde als Jugendlicher geprägt von der Frömmigkeit und Weltoffenheit seiner Eltern und erlebte auch die Besuche von Grellet mit. Er war von Beruf Apotheker und Kaufmann und übernahm 1834 das väterliche Geschäft „hinterm Turm“. Er erbte „der Mutter reiche Gemütstiefe und des Vaters lautere Wahrhaftigkeit“ (Hadorn 485) und hatte wie die alten Täufer Bedenken gegen die Kindertaufe, weshalb er aus der Reformierten Kirche austrat, und lehnte ebenso den Militärdienst ab und war deswegen zweimal im Gefängnis. 1836 war er Mitgründer einer ersten freikirchlichen erwachsentäuferischen Gemeinde in St. Gallen. Diese wurde 1863 vom Kanton anerkannt. Sie nennt sich heute Freie Evangelische Gemeinde FEG. Stephan Schlatter wollte aber „nur das Reich Gottes bauen und nicht seine Privatansicht“ und drängte diese niemandem auf, auch nicht seiner Frau, welche die Kinder alle taufen liess und kirchlich erzog. Er führte ein Bibeldepot und hat als „seine Sonntagsfreude“ als freiwilli- ger Bibelträger in seinem Leben landauf landab 94’000 Bibeln verbreitet. „Der liebenswür- digste und am meisten sympathische Separatist unter den Pietisten“(Wilhelm Hadorn, Gesch. Pie- tismus Schweiz. Ref. Kirchen, 1901, S. 486)

Ein Sohn von Stephan Schlatter und damit Enkel von Anna Schlatter-Bernet war der berühm- te Tübinger Theologieprofessor (für Neues Testament) Adolf Schlatter 1852-1938, auf den heute eine Gedenktafel am Geburtshaus an der Turmgasse hinweist.

Seit kurzem werden dank der Initiative von Marianne Jehle-Wildberger immerhin an der Schlatterstrasse in Rotmonten Grossmutter und Enkel gemeinsam in Erinnerung gebracht: Anna Schlatter und Adolf Schlatter. Eine Enkelin von Anna Schlatter-Bernet, Adolfs jüngere Schwester DORA SCHLATTER 1855-1915 war zunächst Lehrerin in der Neuen Mädchenschule Bern. Nach St. Gallen zu- rückgekehrt heiratete sie 1883 ihren Vetter Salomon Schlatter. Gemeinsam engagierten sie sich während der stolzen, bauwütigen Zeit der St. Galler Stickereiblüte für den Schutz der Heimat und gegen die Bodenspekulation. Dora wurde Schriftstellerin. Sie verfasste etwa 20 Werke, zB. Erzählungen und die Biografien von Vater Stephan und von Grossmutter Anna. Mehr und mehr befasste sie sich trotz aller Kritik die sie verkraften musste, mit „Frauenwe- sen und Frauenziele“, so der Buchtitel von 1900. Dafür zu kämpfen lohne sich. Wichtig war für sie dabei ihr tiefgründiger Briefwechsel mit dem ihr geistesverwandten Pädagogen und Seminardirektor Hermann Oeser in Karlsruhe, dem grossen Förderer der Frauenbildung (1849-1912); die Ehepaare Schlatter-Schlatter und Oeser hatten überhaupt engen Kontakt. Ein Nervenleiden und Bronchitis führten zum frühen Tod von Dora Schlatter – Schlatter mit erst 60 Jahren. Zu Dora Schlatter: blütenweiss bis rabenschwarz, St. Galler Frauen – 200 Porträts, Zürich 2003; Jhs Ninck, Anna Schlatter u ihre Kinder, Stuttgart 1934.

SALOMON SCHLATTER 1858 – 1922, Dora Schlatters Ehemann (bereits ein Urenkel von Anna Schlatter-Bernet), war Architekt in St. Gallen. Er baute Wohnhäuser, die Heime Wienerberg und Langhalde und schuf die Pläne für die Bahnhöfe der Bodensee-Toggenburg-Bahn (eröffnet 1910), bei denen er überall den Zweckbau zu verbinden suchte mit dem jeweiligen einheimischen Baustil. Salomon Schlatter war Forscher und Gestalter, ein hervorragender Zeichner, der beste Kenner der städtischen Baugeschichte, Modell- bauer von Alt-St.Gallen im Jahr 1620. (im Historischen Museum). Salomon Schlatter war mit Hardegger und Schiess Mitverfasser des Bandes „Die Baudenkmäler der Stadt St.Gallen“ 1922. Sein wichtigstes Werk war aber wohl: „Unsere Heimstätten“, Neujahrsblatt 1909.

Salomon Schlatter war aus Überzeugung Heimat-Schützer und verfolgte die Entwicklung St. Gallens zur Grossstadt mit kritischem Unbehagen:
„Wie sich da ein stolzer Handelspalast an den andern reiht, ein altes Haus nach dem andern, ein Wiesenfleck nach dem andern den mächtigen Steinkolossen weichen muss, das ist wahrhaftig grossartig. Wenn Berlin einen Warenhausstil geschaffen hat, so schenkte St. Gallen der Welt den Typus des modernen Geschäftshauses“ (im Tagblatt 13. Jan. 1912, zitiert bei Ernst Ehrenzeller, Geschichte der Stadt St. Gallen, VGS 1988, S. 440).

 

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